Handlungs- / Entscheidungsfähigkeit - Geschäftsfähigkeit 

Mit Inkrafttreten des Erwachsenenschutzgesetzes mit 1.7.2018 wurde der Begriff der "Geschäftsfähigkeit"  nunmehr   erstmalig in § 865 ABGB gesetzlich definiert:

"Die Geschäftsfähigkeit ist die Fähigkeit einer Person, sich durch eigenes Handeln rechtsgeschäftlich zu berechtigen. Sie setzt voraus, dass die Person entscheidungsfähig ist und wird bei Volljährigen vermutet."


§ 24 ABGB:

Handlungsfähigkeit ist die Fähigkeit einer Person, sich im jeweiligen Zusammenhang durch eigenes Handeln zu berechtigen und zu verpflichten. Soweit nichts anderes bestimmt ist, setzt sie Entscheidungsfähigkeit voraus; im jeweiligen Zusammenhang können noch weitere Erfordernisse vorgesehen werden.
Entscheidungsfähig ist, wer die Bedeutung und die Folgen seines Handelns im jeweiligen Zusammenhang verstehen, seinen Willen danach zu bestimmen und sich entsprechend verhalten kann. Dies wird im Zweifel bei Volljährigen vermutet.   


Der neue Begriff der Entscheidungsfähigkeit in § 24 Abs. 2 ABGB soll nach dem Willen des Gesetzgebers im Wesentlichen dieselbe Funktion erfüllen wie die bisherige "Einsichts- und Urteilsfähigkeit".


Nach der Regierungsvorlage hat die Entscheidungsfähigkeit drei wesentliche Voraussetzungen:

  • Kognitives Element: die Fähigkeit und die Folgen des Handels im jeweiligen Zusammenhang zu verstehen 
  • volitives Element: seinen Willen danach zu bestimmen 
  • Fähigkeit sich entsprechend zu verhalten: Diese Fähigkeit fehlt etwa dann, wenn übermächtige Ängste eine Person daran hindern ihrer Einsichts- und Willensfähigkeit gemäß zu handeln.


 

§ 242 ABGB 

 

Gemäß § 242 ABGB wird die Handlungsfähigkeit einer vertretenen Person durch eine Vorsorgevollmacht oder eine Erwachsenenvertretung nicht eingeschränkt.  Die bisherige "Sachwalterschaft" wurde durch die "Erwachsenenvertretung" abgelöst.  Bei der bisherigen Sachwalterschaft bedurfte die betroffene Person auch im lucidum intervallum für rechtsgeschäftliche Verfügungen der Einwilligung des Sachwalters. (6 Ob 125/09d)

 

§ 242 ABGB bedeutet nur, dass eine vertretene Person während der Dauer der Erwachsenenvertretung oder der Wirksamkeit der Vorsorgevollmacht auch lichte Momente (lucida intervalla) haben kann und dies zu berücksichtigen ist. Es kann also - anders als bisher - eine betroffene Person trotz wirksamer Vorsorgevollmacht oder Erwachsenenvertretung selbst wirksame Rechtshandlungen vornehmen, wenn sie dafür die erforderliche Handlungsfähigkeit besitzt (Zierl, Schweighofer, Wimberger, Erwachsenenschutzgesetz, LexisNexis, Wien 2018, S 18)

 

Nach der Regierungsvorlage zu § 865 ABGB ist für das Vorliegen der Geschäftsfähigkeit nicht ein Verständnis für jedes Detail erforderlich, sondern es kommt bloß darauf an, dass der Handelnde erfassen kann, worum es beim jeweiligen Rechtsgeschäft im Kern geht und welche Folgen für ihn daraus im Wesentlichen entstehen. 

 

 

Testierfähigkeit

Nach § 566 ABGB ist testierfähig, wer die Bedeutung und die Folgen seiner letztwilligen Verfügung verstehen und sich entsprechend verhalten kann. 

Nach § 568 ABGB regelt die Beweislast bei der Frage des lucidum intervallums im Falle der grundsätzlich vorhandenen Testierunfähigkeit: 

"Wer behauptet, dass ein sonst nach § 566 testierunfähiger Verstorbener bei der Erklärung des letzten Willens testierfähig war (lichter Augenblick), hat dies zu beweisen." 

Maßstab für die Testierfähigkeit sind die kognitiven Fähigkeiten eines 14-Jährigen. Nicht jede geistige Erkrankung oder bloße Abnahme der geistigen Kräfte schließt die Testierfähigkeit aus (Knechtel in Kletecka/Schauer, ABGB-ON zu § 567 ABGB). Es darf nur nicht die Freiheit der Willensbildung aufgehoben sein, etwa in Folge von Wahnvorstellungen (6 Ob 129/05x).

Diese Definition der Testierfähigkeit erfolgte durch das Erbrechtsänderungsgesetz 2015. Eine Änderung der bisherigen Rechtslage wurde hiedurch nicht bezweckt (RV).


Prim. Univ-Prof. Dr.med. Reinhard Haller setzt sich in seinem Standardwerk "Das psychiatrische Gutachten", Manz, 2008,  mit Fragen der gutachterlichen Beurteilung der Geschäfts- und Testierfähigkeit auseinander. Er bezeichnet die Testierfähigkeit als Sonderfall der allgemeinen Geschäftsfähigkeit.

Für die  Besonderheiten bei der Beurteilung der Geschäfts- und Testierfähigkeit Verstorbener verweist er auf Prof. Clemens Cording, Die Begutachtung der freien Willensbestimmung im deutschen Zivilrecht: Geschäftsfähigkeit, Testierfähigkeit, Prozessfähigkeit, Suizid bei Lebensversicherung (2005). Ein weiteres einschlägiges Werk ist: Cording C./ Nedopil N., Psychiatrische Begutachtungen im Zivilrecht, Ein Handbuch für die Praxis, 2014.


Prof. Haller geht davon aus, dass die Voraussetzungen der Geschäftsunfähigkeit anzunehmen sind, wenn die persönliche oder situative Orientierung nicht mehr gegeben ist, wenn mittelschwere und schwere, überdauernde, kognitive Einschränkungen nachweisbar sind oder wenn neben leichten kognitiven Einschränkungen zusätzliche affektive, halluzinatorische oder paranoide Symptome nachweisbar sind (Haller, a.a.O. S 242, Rainer Tölle, "Wahn", Schattauer Verlag, 2008).

Bei der gutachterlichen Beurteilung der Testierfähigkeit sind nach Prof. Haller, a.a.O., S 239, folgende Schritte zu gewährleisten:

  • Diagnostische Feststellung einer psychischen Störung auf psychopathologischer Ebene,
  • Bestimmung des Schweregrads dieser Störung,
  • Frage der Beeinträchtigung der Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit (nunmehr Entscheidungsfähigkeit)
  • zeitliche Zuordnung zum Zeitpunkt der Testierung
  • Frage des Vorliegens eines lucidum intervallums
  • Beurteilung der Suggestibilität bzw. Fremdbeeinflussbarkeit


  • Demenz: 

    Zur Ermittlung des Schweregrades einer Demenz stehen entsprechende klinische Tests zur Verfügung.


    Ein erster Screeningtest ist der Minimentaltest.

    Die Minimentaltest-Summenwerte zeigen eine Abhängigkeit vom Alter, Ausbildungsniveau und kulturellem Hintergrund. (Prof. Tilman Wetterling, Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen, Kohlhammer, 2016, S 192, der an der Berliner Charité lehrt). Der MMST ist nicht hinreichend sensibel, um den Übergang von einer leichten kognitiven Störung zu einem demenziellen Syndrom anzuzeigen. 


    Der Uhrentest wird auf Grund seiner leichten Durchführbarkeit als Screening - Test oft verwendet. Die Aufgabe besteht darin, in einem vorgegegebenen Kreis die Ziffern einer Uhr einzutragen und die Zeiger so einzuzeichnen, dass sie eine bestimmte Uhrzeit anzeigen (Wetterling, a.a.O., 2016, S 193). 


    Der DemTect wird auch als Kurztest für ein demenzielles Syndrom verwendet (Wetterling, 2016, S 194). 

    Er enthält fünf Aufgaben: Wortliste erinnern (zehn Begriffe), Zahlen umwandeln (Zahl in Schriftform), Supermarktaufgabe, Zahlenfolge rückwärts und Wortliste neu erinnern (siehe hiezu auch Isabelle C. Losch, Rechtsanwältin in Frankfurt, Testierfähigkeit unter besonderer Berücksichtigung des Krankheitbildes der Demenz und ihrer postmortalen Begutachtung, Zerb 2017, 188).


    Entscheidungen zur Testierunfähigkeit bei Demenz: 2 Ob 210/17x 


    Nach Horst Dilling, Harald J. Freyberger, Taschenführer zur ICD-10 Klassifikation psychischer Störungen, Hogrefe 2016, ist Demenz (F00-F03) ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Erkrankung des Gehirns mit Beeinträchtigung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Das Bewusstsein ist nicht getrübt (mit Ausnahme der späten Stadien der Erkrankung). Die kognitiven Beeinträchtigungen werden gewöhnlich von Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation begleitet, gelegentlich treten diese auch eher auf. Dieses Syndrom kommt bei Alzheimer-Krankheit, bei zerebrovaskulären Störungen und anderen Zustandsbildern vor, die primär oder sekundär das Gehirn betreffen. 

    Der ICD 10 ist die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme 10. Revision. 

    Alzheimer - Demenz: 

    Diese ist gekennzeichnet durch das Vorliegen morphologischer Veränderungen: Hirnatrophie, Abnahme der Zahl der Nervenzellen und der Synapsen, die für die Signalübertragung erforderlich sind. Innerhalb und außerhalb der Nervenzellen kommt es zu Ablagerungen von pathologischen Eiweißkomplexen. Es handelt sich um strukturelle Hirnschädigungen. (Wetterling, a.a.O., 2016, S 57 -58).


    Veränderung der Blutgefäße (zerebrovaskuläre Störungen):

    Die zweithäufigste Ursache für ein demenzielles Syndrom stellen Veränderungen der Hirngefäße dar. Neuropathologisches Korrelat der im cCT oder MRT sichtbaren flächigen Veränderungen der weißen Hirnsubstanz sind meist progredient verlaufende Veränderungen der kleinen Arterien des Gehirns, die zu einer Verringerung der Anzahl der Arterien sowie zu pathologischen Veränderungen der weißen Substanz des Gehirns führen. (White Matter Hypodensities (WMH)). In der Regel finden sich eine Vielzahl kleiner Hirninfarkte. (Lakunen). WMHs und Lakunen stellen immer eine strukturelle Schädigung des Gehirns dar. Bei einem Schlaganfall (Hirninfarkt) kommt es zu einer Minderdurchblutung des Hirnareals, das in der Folgezeit "organisiert" wird, dh Nervengewebe wird abgebaut und durch nicht-neuronales Gewebe im Sinne einer Narbe ersetzt. Nur die Randbezirke sind in der Lage, sich zu reorganisieren. Es liegt sohin wiederum eine strukturelle Hirnschädigung vor (Wetterling, a.a.O, 2016, S 58).


    Gemäß Müßigbrodt, Kleinschmidt, Schürmann, Freyberger, Dilling, Psychische Störungen in der Praxis, Verlag Huber, Hogrefe, 2014, S 22 zu F 00 - F 03 Demenz können Patienten aber trotz erheblicher Gedächtnisstörungen in kurzen Kontakten aufmerksam und situationsadäquat wirken. ("Fassadenverhalten", 2 Ob 502/91)


    Erste Hinweise auf ein demenzielles Syndrom sind (Wetterling, a.a.O, 2016, S 59):

    • Merkfähigkeitstörungen
    • Orientierungsstörungen
    • Wortfindungsstörungen, häufiges Benutzen von Floskeln
    • Verlangsamung der kognitiven Funktionen,
    • Schwierigkeiten, mehrschrittige Handlungsabläufe richtig durchzuführen,
    • Wahn, bestohlen oder hintergangen zu werden,
    • Schlafstörungen mit nächtlicher Unruhe,
    • Verhaltensänderungen (Ausbildung "sinnloser" stereotyper Verhaltensmuster)
    • Veränderungen der Persönlichkeit im Sinne einer Akzentuierung oder Entdifferenzierung der Primärpersönlichkeit


    Wahn im Alter

    Nach der klassischen Definition des Wahns nach Karl Jaspers (Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 1946, S 80) zeichnet sich der Wahn aus durch (siehe Prof. Dr.Tilman Wetterling, Berlin, Geschäfts- und Testierfähigkeit bei Wahn, ErbR2018, S 10) :

    • die außergewöhnliche Überzeugung, mit der an dem "verfälschten" Urteil festgehalten wird und die ungewöhnliche subjektive Gewissheit,
    • die Unbeeinflussbarkeit durch Erfahrung und zwingende Schlüsse (Unkorrigierbarkeit des Gedankens),
    • sowie die Unmöglichkeit des Inhalts.

    Bei wahnhaften Störungen ist genau abzugrenzen, ob die paranoide Störung einen inhaltlichen Bezug zum strittigen Rechtsgeschäft hat (Haller, a.a.O. S 243, Vergiftungswahn in 3 Ob 539/90).

    Eine Entscheidung bei einem altersparanoiden Symptom, das sich gegen das Kind des Erblassers (Verfolgungswahn) richtete:
    2 Ob 609/87 (Hirnarterienverkalkung mit Persönlichkeitsänderung, paranoia in senio)

    Bei hirnorganischen Abbauprozessen ist es jedoch möglich, dass die krankhaften, die freie Willensbildung aufhebenden paranoiden Gedankeninhalte von Personen unbemerkt bleiben können, wenn sie mit dem Krankheitsbild nicht vertraut sind (6 Ob 129/05x).


    Wahnideen älterer Menschen werden nicht selten als "alterstypische Verbohrtheit", bloße "Rigidität", "'Altersstarrsinn" oder Ähnliches qualifiziert (Cording, Psychiatrische Begutachtung im Zivilrecht, 2014, S 55).
    Ein erstmalig im Alter aufgetretener Wahn zeigt meist einen chronischen Verlauf.

    Die Behandlungsmöglichkeiten eines Wahns bestehen im Wesentlichen in der Behandlung mit Psychopharmaka - Antipsychotika - (Wetterling, a.a.O., 2016, S 180).
    Wenn der Erblasser der wahnhaften, also objektiv irrigen, unkorrigierbaren Auffassung ist, dass das Kind des Erblassers Mitglied einer "dunklen Vereinigung" ist, die danach trachtet ihn zu vernichten und hiefür vielleicht noch Beweise sammelt, kann von einer von der Wahnerkrankung unbeeinflussten Willenstätigkeit nicht mehr gesprochen werden (Zeitschrift für das Notariat in Baden - Württemberg, BWNotZ, Geschäftsfähig / testierfähig oder fremdbestimmt, Nr. 6/2012, S 157).


    Beim Wahn kommt es nicht nur zu einer unzureichenden Auffassung des realen Geschehens, sondern zu einem in gravierender Weise verzerrten Realitätsbezug, indem beispielsweise wohlmeinende Angehörige als böswillige Verfolger erlebt werden. Die damit einhergehenden emotionalen Einstellungsänderungen sind in der Regel tiefgreifend und anhaltend, selbst wenn die ursprünglichen Wahngedanken (z.B. unter neuroleptischer - antipsychotischer - Behandlung) abgeklungen sind. (Cording, a.a.O., 2014, S 56)


    Ein Wahn tritt häufig zusammen mit weiteren psychopathologischen Auffälligkeiten, wie etwa Verhaltensstörungen oder einem Rückzug in die eigene Welt (sogenannte Ich - Bezogenheit) auf (Wetterling, Geschäfts- und Testierfähigkeit bei Wahn, ErbR 2018, S 12).


    Organische Wesensänderung 

    Hirnkrankheiten und Schädigungen verursachen häufig organische Persönlichkeitsstörungen (Wesensänderungen), die am geänderten Verhalten zu erkennen sind. Der Betroffene wird gleichgültig und interesselos, reagiert verlangsamt und umständlich, ist reizbar und leicht verstimmt, zeigt einen Verlust höherer Regungen (zB Rücksichtnahme) und eine Abstumpfung feinerer seelischer Schwingungen. Typische Persönlichkeitseigenschaften werden zugespitzt, dh der Sparsame wird geizig, der Misstrauische wird paranoid, der Redselige wird geschwätzig, der Aktive wird getrieben. Das Krankheitsbild wird also von den (vorbestehenden) persönlichkeitseigenen Einflüssen und von hirnorganischen Schädigungen bestimmt. Organische Persönlichkeitsstörungen sind von großer forensischer Relevanz, da sie die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinträchtigen und zu mangelnder Belastbarkeit und reduzierter Impulskontrolle führen. Unsoziale Handlungen wie Stehlen, unangemessene Annäherungsversuche oder auch gieriges Essen und Vernachlässigung der Körperpflege sind typische Erstsymptome (Haller, a.a.O., S 89, 2 Ob 609/87).


    siehe 

    ICD 10 F 07 Persönlichkeits-  und Verhaltensstörung auf Grund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns 

    ICD F 06.2  organisch wahnhafte Störung  

    je ohne Vorliegen einer Demenz 

    Lucidum intervallum und Verlaufsaspekte

    § 242 ABGB bedeutet, dass eine vertretene Person nach dem Erwachsenenschutzgesetz auch lichte Momente haben kann.  § 568 ABGB regelt die Beweislast bei grundsätzlich vorhandener Testierunfähigkeit für das Vorliegen des lucidum intervallum dergestalt, dass das lucidum intervallum vom Behauptenden bewiesen werden muss. 


    Bei chronisch verlaufenden psychopathologischen Symptomen sind jedoch kurzfristige luzide Intervalle mit Wiedererlangung der Urteils- und Steuerungsfähigkeit nahezu unmöglich. Sowohl bei demenziellen Abbauprozessen als auch bei altersparanoiden Symptomen ist eine solche Möglichkeit nicht ernsthaft in Betracht zu ziehen (Haller, a.a.O., S 244).

    Wenn im Rahmen einer chronischen bzw. chronisch - progredienten Erkrankung psychopathologische Symptome bzw. Syndrome belegt sind, so sind kurzfristige (Stunden, Tage dauernde) "luzide Intervalle" mit Wiedererlangung der Urteilsfähigkeit praktisch ausgeschlossen und kommen als ernsthafte Möglichkeit im Sinne der deutschen Rechtssprechung nicht in Betracht (Cording, Psychiatrische Begutachtungen im Zivilrecht, 2014, S 108, Steffen  M. Jauß, lucidum intervallum, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtssprechung, Jahrgang 99, 2016, Heft 4).


    Interessante Entscheidung aus Deutschland zur Frage des lucidum intervallum bei Wahnsymptomatik (Bestehlungswahn):


    OLG Frankfurt 20 W 188/16, Entscheidungstext.   


    Diese Entscheidung des OLG Frankfurt, 20 W 188/16, betont, dass bei den meisten dauerhaften, geistigen, nachhaltig wirkenden Erkrankungen sogenannte "luzide Intervalle" ausgeschlossen werden. (vgl. Notar Baumann im Staudinger-Kommentar zu § 2229 BGB, RZ 41, Neubearbeitung 2018, insbesondere dann, wenn bereits strukturelle, irreversible Hirnveränderungen eingetreten sind).

    Insoweit weist Cording darauf hin, dass sich bei chronischen oder chronisch-progredienten Störungen (wie beispielsweise demenziellen Syndromen, ausgeprägten organischen Wesensänderungen, vielen Wahnsyndromen, etc)  die Beurteilung der Testierfähigkeit nach den individuell  im fraglichen Zeitraum vorhandenen Dauerveränderungen der gutachtensrelevanten Symptomatik richtet. (Cording, Psychiatrische Begutachtung im Zivilrecht, Papst Science Publishers, 2014, S 107) 

    Diese Entscheidung des OLG Frankfurt stellt weiters fest, dass eine von Wahnvorstellungen besessene Person in Bereichen, die mit diesen Wahnvorstellungen nicht zusammenhängen, durchaus normal und vernünftig handeln und denken kann (vgl. 6 Ob 129/05x). Für die Bejahung der Testierunfähigkeit müssen sich aber die Wahnvorstellungen inhaltlich auf Themen beziehen, die für die Willensbildung in Bezug auf die Testamentserrichtung relevant sind (Cording, Kritieren zur Feststellung der Testier(un)fähigkeit, ZEV 2010, 115 ff). 

    Die heutige medizinische Wissenschaft hält "lichte Augenblicke" in den meisten Fällen krankhafter Störungen der Geistestätigkeit und insbesondere bei Geistesschwäche grundsätzlich nicht für möglich (Tilman Wetterling, Freier Wille und neuropsychiatrische Erkrankungen, Verlag Kohlhammer, 2016, S 200 ff). 

    Die ursprüngliche Vorstellung von "luziden Intervallen" hat sich auf die meist Monate bis Jahre dauernden symptomfreien Intervalle bei phasenhaft verlaufenden Psychosen bezogen. Erst nach einem Bedeutungswandel im 19. Jahrhundert wird der Begriff seither meist für kurzdauernde Zustandsbesserungen während eines an sich chronischen Krankheitsprozesses verwendet. In der juristischen Literatur werden beide Arten von "Intervallen" nicht unterschieden, wodurch Konfusion entsteht. (Beschluss des Oberlandesgerichtes München vom 1.7.2013, 31 Wx 266/12)

    Bei strukturellen Hirnschädigungen ist davon auszugehen, dass die nachweisbaren Hirnfunktionsstörungen im Verlauf weitgehend konstant bleiben oder zunehmen (Wetterling a.a.O., 2016, S 196). Häufig kommt es bei strukturellen Hirnschädigungen, v.a. im Alter, aufgrund der fehlenden "Reservekapazität" zu einer langsam fortschreitenden Symptomatik, z.B. nach einem Schlaganfall. Dies beruht in vielen Fällen auf der Zunahme einer zerebralen Netzwerkstörung, für die Marklager-Veränderungen (WMH) ein Zeichen sind (Wetterling a.a.O., S 196). 

    Einer zerebrovaskulären Insuffizienz liegt in den meisten Fällen eine "Durchblutungsstörung" auf der Ebene der kleine Hirngefäße zu Grunde. Diese betrifft das Marklager - weiße Hirnsubstanz - (WMH - White Matter Hypodensities). Häufig sind gleichzeitig kleine (lakunäre) Infarkte nachweisbar. Nur bei einem kleinen Teil der Betroffenen ist ein akutes zerebrovaskuläres Ereignis wie ein Schlaganfall oder eine transistorische Attacke nachweisbar. Bei Personen mit neuroradiologisch nachgewiesenen WMH sind gehäuft neuropsychiatrische Auffälligkeiten beschrieben worden (Wetterling a.a.O, 2016, S 86 und Wetterling, Organisch psychische Störungen - hirnorganische Psychosyndrome, Steinkopf, 2002, S 343) und zwar in absteigender Häufigkeit: Hirnfunktionsstörungen bis zum Vollbild eines demenziellen Syndroms, affektive (v.a. depressive) und wahnhafte Störungen sowie Verwirrtheitszustände. WMHs und Lakunen stellen immer einen Residualzustand dar, d.h. strukturelle Schädigungen (Wetterling, a.a.O., 2016, S 58).

    Bei strukturellen Hirnveränderungen, bei denen in der Regel keine schnelle Änderung der Hirnfunktionsstörungen auftritt, kann davon ausgegangen werden, dass ein Symptom, das vor dem strittigen Termin (z.B. Testamentserrichtung) und ebenfalls nach dem Termin an Hand konkreter Anhaltspunkte nachweisbar ist, auch an dem Termin vorlag. Dieser sogenannte Anscheinsbeweis wird von der deutschen Rechtssprechung anerkannt (Wetterling, a.a.O. 2016, S 196, vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14.12.1981 - 11W 72/81; OLG Köln, Beschluss vom 26.08.1991 - 2 Wx 10/91; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 01.06.2012 - I-3 WX 273/11, siehe auch Cording, Psychiatrische Begutachtung im Zivilrecht, 2014, S 107, OLG München 01.07.2013, 31 Wx 266/12).  


    Subjektive Gewissheit beim Wahn


    Im Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde (Das AMPD - System, hogrefe, 2018) heißt es auf S 58 zum Begriff " Wahn" : 

    "Der Kranke hat im Allgemeinen nicht das Bedürfnis nach Begründung seiner wahnhaften Meinung, ihre Richtigkeit ist ihm unmittelbar evident". 

    Gemäß Beschluss des Oberlandesgerichtes München vom 15.12.2016, 31 Wx 144/15, "Entscheidung Gurlitt", ist ein maßgebliches Kriterium des Wahns die subjektive Gewissheit und Unkorrigierbarkeit der Vorstellung (Wetterling, ErbR 2015, 544/545). Diese kann nur dann sicher festgestellt werden, wenn der Betroffene mit dem wahren Sachverhalt bzw. der Unmöglichkeit seiner  Feststellungen konfrontiert wird. Nur aus dem Versuch eines Zeugen, die Vorstellungen des Erblassers zu korrigieren oder zu hinterfragen, können belastbare Schlussfolgerungen hinsichtlich des Vorliegens eines Wahns getroffen werden (Wetterling, a.a.O., 2016). In diesem Beschluss  des Oberlandesgerichtes München vom 15.12.2016 wird auch ausgeführt, dass auch Prof. Cording eine Überzeugungsbildung verlangt, die logischer Argumentation nicht zugänglich ist (siehe auch Prof. Tilman Wetterling, Geschäfts- und Testierfähigkeit bei Wahn, ErbR 2018, 10).  

    Die deutsche Rechtssprechung sieht im Wahn ein subjektives Erleben, das häufig anderen nicht mitgeteilt wird. (BayObLG, Beschluss vom 17.08.2004 - 1 Zr BR 53/04,  Oliver Horsky, Die Begutachtung der Testierfähigkeit - in der juristischen Theorie und Praxis, Berlin 2017, S 51). Wahnhafte Realitätsverkennnungen werden von den Kranken keineswegs ständig geäußert (Cording, Psychiatrische Begutachtungen im Zivilrecht, 2014, S 99). 



    Checkliste für die psychiatrische Beurteilung der Testierfähigkeit nach Prof. Haller, a.a.O., S 248: 

    • Liegt eine Bewusstseinstörung vor, sodass der Betreffende die Bedeutung des vorgenommenen Aktes nicht erkennt ?
    • Hat er Überblick über die Materie, dh den zu vererbenden Nachlass, kann er diese Frage kritisch abwägen ?
    • Ist er über die Situation, in der er sich befindet, orientiert ?
    • Wird er von Wahngedanken bei seiner Entscheidung geleitet ?
    • Liegen hochgradige Gedächtnisstörungen vor ? Sie haben besondere Bedeutung, weil sich aus ihnen die wesentliche willensmäßige oder emotionale Besetzung der Entscheidung ergibt. 
    • Besteht eine hochgradige affektive Labilität, dh ein schnelles Schwanken der Stimmung, die  für die Entscheidung bedeutsam ist ? 
    • Bis zu welchem Grad erscheint der Erblasser beeinflussbar ?


    Überprüfung der Testierfähigkeit durch den Notar

    Der Notar hat sich bei Prüfung der Testierfähigkeit zur Errichtung eines notariellen Testamentes keine aufwändigen Untersuchungen anzustellen und insbesondere kein Sachverständigengutachten einzuholen. Die Frage der Testierfähigkeit ist von der Urkundsperson anhand ihrer Lebenserfahrung und ihrer juristischen Fachkenntnisse zu beurteilen. Eine nähere Prüfung der Testierfähigkeit bleibt dem Rechtsweg vorbehalten (6 Ob 129/05x).

    Die Bejahung der Testierfähigkeit durch den Notar hat lediglich Indizwirkung und steht der Führung des Gegenbeweises nicht entgegen. Der Notar ist letztendlich ein Jurist und in der Regel keine Person mit medizinischer Ausbildung. Es kann daher von einem Notar daher keine abschließende, psychiatrische Diagnostik erwartet werden.

    Qualifikation des Sachverständigen: 

    Gemäß der Entscheidung des LGZ Wien vom 26.2.2008, 42 R 4/08 m, ist die Frage der Testierfähigkeit mit Hilfe eines Sachverständigen aus dem Fachgebiet der Psychiatrie zu klären.  

    Der Kompetenzbereich der Psychologen wurde durch die Einführung des Zusatztitels "Klinische Psychologie" stark ausgeweitet. Es ist ein chronischer Mangel an qualifizierten psychiatrischen Gutachtern zu beklagen.
    Bezogen auf gutachterliche Fragestellungen könnte man sagen, dass die Beurteilung von Geisteskrankheiten bzw. psychotischen und psychosewertigen Störungen, von psychischen Auswirkungen körperlicher Erkrankungen und tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen, von Rauschsyndromen und Suchtmittelgewöhnung, von Schmerzzuständen und Funktionsbeeinträchtigungen sowie die Beantwortung von Unterbringungsfragen in den Bereich der Psychiatrie fallen.
    Hingegen stellen Begutachtungen zur Frage der Glaubwürdigkeit, der Führerschein- und Waffentauglichkeit, der Obsorge- und Besuchsregelung eine psychologische Domäne dar. (Haller, a.a.O. S 6)


    Nach § 2 Abs.3 ÄrzteG 1998 ist jeder zur selbständigen Ausübung des Berufes berechtigte Arzt befugt, ärztliche Zeugnisse auszustellen und Gutachten zu erstellen.

    Ein Arzt darf ein ärztliches Zeugnis nach § 55 ÄrzteG nur nach gewissenhafter ärztlicher Untersuchung und nach genauer Erhebung der im Zeugnis zu bestätigenden Tatsachen nach seinem besten Wissen und Gewissen ausstellen. Fachärzte haben ihre fachärztliche Berufstätigkeit nach § 31 Ärztegesetz auf ihr Sonderfach zu beschränken.

    Ein Arzt der Allgemeinmedizin ist nicht auf besondere Bereiche der Medizin beschränkt. Wenn er sich aber auf ein Spezialgebiet "wagt", hat er für das Fehlen der hiefür erforderlichen besonderen Kenntnisse und Erfahrungen einzustehen (§ 1299 ABGB). (Spruzina/Pichler, in Deixler-Hübner/Schauer, Erwachsenenschutzrecht, S 67, RZ. 3.108)

    Im deutschen Aufsatz "Standards bei der Begutachtung der Geschäfts- und Testierfähigkeit", Springer-Verlag, 2017 verweist Prof. Cording auf S 229 darauf, dass Geschäfts- und Testierfähigkeit eines Erwachsenen lediglich infolge einer krankheitswertigen psychischen Störung ausgeschlossen sein kann und dabei letztlich immer die psychopathologischen Merkmale ausschlagend sind. Dazu benötigt der Gutachter Kenntnisse der Psychopathologie, was in der Regel zumindest eine psychiatrische Facharztausbildung voraussetzt. Erforderlich ist ein Spezialwissen, das allein durch die Facharztweiterausbildung nicht gewährleistet ist. Innerhalb des Schwerpunkts "forensische Psychiatrie" sind die für strafrechtliche Fragestellungen notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen so verschieden von denen, die für zivilrechtliche Fragestellungen erforderlich sind, dass eine diesbezüglich ausreichende Kompetenz erfahrungsgemäß nicht mehr gegeben ist.